In seiner Neufassung von Sophokles’ „König Ödipus“ spannt der Autor Thomas Köck einen Bogen von der antiken Welt, in der die Menschen scheinbar Spielball der Launen der Götter sind, hin zu unserer Gegenwart – einer Zeit des technischen Fortschritts, des ungebremsten Wirtschaftswachstums und der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen bis an die Belastungsgrenzen unseres Planeten. Ganz im Gegensatz zum tragischen Helden Ödipus verfügen wir über alle Erkenntnisse und halten dennoch fest an überkommenen Verhaltensweisen, kommen nicht in ein unserer Situation angemessenes Handeln. Ein Chor wohlstandswutschnaubender Greise plädiert in Köcks Überschreibung für Besitzstandsbewahrung, will im wahrsten Sinne des Wortes die Füße nicht vom Gaspedal nehmen, denn die vier- und achtspurigen Autobahnen wollen befahren werden und nicht umsonst gebaut sein. Die herrschende Klasse lebt ungeachtet der klimatischen Verwerfungen ihr abgeschirmtes Leben im Luxus und nimmt sich nur sehr zögerlich der Nöte der Bürger*innen Thebens an.
Thomas Köck hat „forecast : ödipus. living on an damaged planet (τύφλωσίς, II)” 2023 als Auftragsarbeit für das Schauspiel Stuttgart geschrieben und nimmt mit dem Auto das wichtigste deutsche Industrieprodukt ins Visier, das gleichermaßen für Wohlstand und Aufstieg, aber auch für Umweltzerstörung steht. Im Spannungsfeld zwischen den Prognosen einer düsteren Zukunft einerseits und der manifesten Blindheit (dt. Übersetzung des Titelzusatzes τύφλωσίς) angesichts der Klimakrise andererseits bewegen sich die Bewohner*innen Thebens. Ihre (und unsere) Ignoranz ist ein mehr oder weniger bewusstes Verschließen der Augen angesichts multipler globaler Krisen. Im Zeitalter des Anthropozäns hat der Spruch, „wir gehen mit unserem Planeten so um, als hätten wir noch einen zweiten im Kofferraum“, längst ausgedient. Schon richten sich die Augen von Tech-Milliardären in Richtung Mars und es wird nach Alternativen zu unserem blauen Planeten gesucht.
Thomas Köck beschreibt Mythen als Datenreste auf alten Festplatten, die wir nicht dechiffrieren können, weil sie Träger alter, überholter Ideologien sind. Ein System, das über keine Problemlösungskompetenz mehr verfügt. Die Suche nach dem Schuldigen, dem Sündenbock, dessen Ausgrenzung den alten Status Quo wieder sichern soll, greift nicht mehr. Das System Laios hat ausgedient. Als Ödipus am Ende der Geschichte ganz wie bei Sophokles sich selbst als den Mörder des Laios entlarvt, ist damit nichts gelöst. Augenfällig wird das vor allem durch eine Figur, die Thomas Köck neu zu Sophokles Tragödie hinzufügt: Pythia, die Stimme des Orakels, Gegenspielerin zum blinden Seher Teiresias. Sie spricht von Beginn an die bitteren Wahrheiten aus, vor denen die Menschen von Theben ihre Augen verschließen: Dass die Ressourcen aufgebraucht sind, dass das ewige Wirtschaftswachstum an seine Grenzen stößt, dass die Party vorbei ist. Der blinde Seher Teiresias und Pythia geraten darüber in Streit, wie in dieser Situation zu verfahren sei. Teiresias möchte weiterhin durch lukrative Berater*innentätigkeit von der Blindheit der Herrschenden profitieren, Pythia dagegen fordert den Wandel.
Während der antike Vorgänger alle Hebel in Bewegung setzt, um das Verbrechen, das Unheil über die Stadt Theben gebracht hat, aufzuklären, macht sich Köcks Ödipus eher missmutig an die Ermittlung des Mordes an Laios. Nur langsam dämmert Thomas Köcks Ödipus, dass nicht er das Zentrum des Universums ist. Aber was folgt aus dieser Erkenntnis?
Während bei Sophokles die Überwindung der Blindheit (τύφλωσίς), die Selbsterkenntnis, der Schlüssel zur Lösung aller Probleme Thebens zu sein schien, stellt Köck dieses Konstrukt quasi auf den Kopf. Unsere Ignoranz ist eine andere als die des Sophokleischen Ödipus. Der Brüchigkeit der Welt und ihrer Gewissheiten begegnen wir mit Verdrängung. Die Suche nach der Erkenntnis liegt bereits hinter uns und was wir aus unserem Wissen machen, ist noch offen. „Back to normal“ wäre die schlechtere Option.
"Io Io Io – ach Welt, ach Klima, ach Mensch" ist ein Eigenbeitrag von Dramaturgin Carola von Gradulewski.