Lea Seiz: Für uns war zentral, dass das Stück „Die ersten hundert Tage“ von Lars Werner Teil unseres Programms dieser Spielzeit ist. Bei der Auswahl war auch die Kombination mit Deiner Regie zentral. Warum war und ist Dir wichtig, diesen Text auf die Bühne zu bringen?
Leonard Dick: Mir war es vor eineinhalb Jahren wichtig diesen Text auf die Bühne zu bringen, weil ich die Menschen vor der geplanten Bundestagswahl im Herbst 2025 aufrütteln wollte. Ein letzter politischer Akt, um irgendetwas entgegenzubringen in meinen geringen Mitteln als Individuum. Jetzt wurde die Bundestagswahl vorgeschoben und man könnte meinen, dass wir nochmal mit einem blauen Auge davon gekommen sind. Aber das stimmt natürlich nicht. Dieser schleichende Prozess hält an und wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, in welche rechtsextreme Richtung sich das Volk bewegt. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass wir auf eine gesellschaftspolitische Katastrophe zulaufen. Und auch wenn ein tägliches Erinnern nervend und anstrengend sein kann, so ist dieser Versuch eines Dialogs und ein Hinweisen darauf wichtig!
Lea Seiz: In der Vorbereitungszeit haben wir davon gesprochen, dass Lars Werner mit dieser Erzählung von der Machtergreifung einer rechtsextremen Regierung ein Gedankenexperiment durchführt – dem „Was wäre, wenn?“ nachgeht. Wie fühlt es sich inzwischen an, dieses „Gedankenexperiment“ zu inszenieren?
Leonard Dick: Es tut weh, weil sich dieses Gedankenexperiment eben nicht mehr nach Experiment anfühlt. Nicht mehr nach einer weit entfernten Dystopie. Es fallen teilweise Sätze in Lars Werners Text, die Realität geworden sind. Zum Beispiel, dass die im Stücktext sogenannte rechtsextreme Partei bei 26% der Wählerstimmen liegt. In unserer gegenwärtigen Realität hat in den letzten Sonntagsumfragen eine bestimmte Partei, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird, genau diesen Prozentsatz erreicht. Teilweise sitze ich auf den Proben und will es selber nicht glauben. Will am liebsten einfach eine Komödie inszenieren und wegschauen. Aber genau darin liegt der Fehler. Wir MÜSSEN hinschauen. Wir MÜSSEN den Dialog aufrecht erhalten mit unseren Mitmenschen. Auch wenn es weh tut.
Lea Seiz: Das Stück erzählt von vier persönlich und politisch auseinanderdriftenden Menschen, die sich nach einiger Zeit wieder treffen. Ist das Motiv einer gespaltenen Gesellschaft für Dich Teil unserer Gegenwart oder ein Narrativ, das wir eigentlich hinterfragen müssten?
Leonard Dick: Ich kann nicht für eine ganze Nation sprechen, das wäre vermessen. Diese Spaltung zu beschreiben, würde zu viel Zeit einnehmen und viel zu viele Seiten im Programmheft. Streng genommen könnte das jede Frage. Aber ich kann von meinen Beobachtungen sprechen, die ich in meinen wenigen Bubbles erfahre. Und ich sehe bei den Menschen eine sehr große Unsicherheit und Angst vor der Zukunft, unabhängig davon, welcher politischen Richtung sie zugehören. Diese Gemeinsamkeit ist erstmal etwas Positives, auch wenn das paradox klingen mag. Aber mir scheint es, dass wir leider so funktionieren: Je größer unsere Angst, desto fatalistischer werden wir und suchen schnell eine „einfache“ Ursache für unser Verhalten. Und genau da liegt der Fehler. Wir können ewig darüber reden, dass wir gespalten sind. Auf Gruppierungen zeigen, die vermeintlich der Grund dafür sind. Aber ständig hervorzuheben, dass wir als demokratische Gesellschaft nicht zusammen kommen, löst das Problem nicht und führt in meinen Augen eher dazu, dass man diese „Spaltung" immer weiter verinnerlicht. Normalisiert. Wir verraten somit unsere demokratischen Werte. Jetzt habe ich doch für eine ganze Nation gesprochen. Naja … Ich für meinen Teil suche vielmehr nach Wegen in meiner Kunst, wie wir einen Dialog wieder herstellen. Auch in „Die ersten hundert Tage“ sehen wir, wie sich die Freund*innen trotz größtmöglicher Spaltung durchringen zu einem Treffen. Sie überwinden sich. Das schmerzt und verlangt, das Ego kurz zu vergessen, aber alleine dieser Akt ist so unglaublich wertvoll. Mittlerweile schon utopisch. Leider.
Lea Seiz: Beziehungen und Freundschaften zerbrechen in den letzten Jahren immer mehr an moralischen, gesellschaftlichen und politischen Fragen. Gibt uns das Stück Möglichkeiten, damit umzugehen?
Leonard Dick: Es hält erstmal die Lupe darauf, was ich gut finde. Viele toxische Verhaltensmuster, die wir in freundschaftlichen und familiären Beziehungsdynamiken ausleben, können wir dort als Extrakt auf der Bühne beobachten. Hoffentlich fühlt sich die ein oder andere Person ertappt. Ich glaube, diese zweijährige Sendepause zwischen den Freund*innen im Stück ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie unglaublich verletzend es ist, wenn wir aufhören miteinander zu sprechen. Wenn wir stur auf unserer Position beharren und keine Toleranz für andere Blickpunkte haben. Verdrängung führt nie zu einer Lösung. Dafür muss ich kein Psychologe sein. Also schnappt euch euer Auto, oder noch besser euer Fahrrad, oder nehmt den nächsten Zug und fahrt zu euren „Problemen“ hin und redet! Es wird weh tun, aber es hilft!
Lea Seiz: Worauf arbeitest Du gemeinsam mit Deinem Team mit dieser Inszenierung hin, was möchtest Du dem Publikum mitgeben?
Leonard Dick: Ich versuche mit dem gesamten Team vor allem widersprüchliche Charaktere zu zeichnen, die wir nie ganz durchdringen, aber trotzdem nachvollziehen können. Wenn wir das schaffen, dann glaube ich ganz fest daran, dass die größtmögliche Identifikation für die Zuschauer*innen mit den Figuren auf der Bühne geschieht. Und wenn wir das erstmal schaffen, was ein unglaublicher Kraftakt für die Spielenden ist, dann haben wir schon mal ganz viel richtig gemacht und dienen automatisch dem brisanten politischen Inhalt des Textes.
Lea Seiz: Wie schaut der Stücktext in die Zukunft? Gibt es in diesen ersten hundert Tagen auch einen „hoffnungsvoll radikalen“ Blick?
Leonard Dick: Ich will das Ende nicht spoilern, darum ist es schwierig darüber zu reden. Aber dort gibt es einen Moment, der mir Hoffnung gibt. Stichwort: aktiv werden und nicht wegschauen. Denn bei aller Liebe zum Dialog mit unseren Mitmenschen, gibt es auch gewisse politische Entscheidungen, die wir nicht dulden dürfen, weil sie höchst antidemokratisch sind. Außerdem gibt es dort draußen Menschen, die andere verfolgen und auslöschen wollen. Hier gibt es keine Chance auf einen Dialog, hier muss man selber aktiv werden. Hier muss man als solidarische Masse auf die Straße und protestieren, den Finger auf die Wunde legen und vor allem nicht wegschauen! Jeden Tag aufs Neue dafür kämpfen!